LIVE NIRVANA INTERVIEW ARCHIVE August 12, 1993 - Seattle, WA, US

Interviewer(s)
Henning Richter
Interviewee(s)
Kurt Cobain
Krist Novoselic
Dave Grohl
Publisher Title Transcript
Metal Hammer Nirvana: Stars Wider Willen Yes (Deutsch)

Nach NEVERMIND stand die Rockwelt Kopf, NIRVANA dagegen bekamen Kopfschmerzen. Im Interview mit HENNING RICHTER äußert sich KURT COBAIN offen über die Schattenseiten des Erfolgs und die zahlreichen Gerüchte, die über ihn kursieren.

"In dem Hotel haben auch schon Led Zeppelin und die Beatles gewohnt", sagt eine freundliche Zollbeamtin auf dem Flughafen in Seattle, während sie mein Gepäck sorgfältig filzt. Kurze Zeit später schon sitze ich in besagter Nobelherberge namens Edgewater Hotel, direkt am Hafen von Seattle gelegen. Links von mir Kurt Cobain, der mit den Fingern ein paar Shrimps mit Gemüse vertilgt und durch etliche herzhafte Rülpser unmißverständlich kundtut, daß es ihm schmeckt. Rechts von mir hockt Dave Grohl auf dem Fußboden und nimmt regen Anteil an unserem Gespräch, ohne sich allerdings allzu oft zu Wort zu melden. Neben ihm fletzt sich Krist (alias Chris) Novoselic in einem Sessel, die Bass-spielende Bohnenstange, die neuerdings eine schrecklich spießige Kurzhaarfrisur ziert.

Nirvana melden sich zurück. Kaum zu glauben, daß diese drei völlig normal erscheinenden Bengel der Rockwelt einen Tritt in den Hintern verpaßten, den sogar die Scorpions verspürten. Die Stachelträger erklärten kürzlich, der Seattle-Sound hätte sie veranlaßt, ihr neues Album rauh und (für ihre Verhältnisse) schnell aufzunehmen. Der Arschtritt hat einen Namen: NEVERMIND, ein echter Geniestreich, der die Einstellung des Punk mit den Melodien des Pop kombinierte. Neun Millionen Käufer eilten in die Plattenläden, um das Teil zu erwerben. Grunge wurde populär wie nie zuvor, Hunderte von Blaupausen-Combos brachten ähnlich klingende Scheiben auf den Markt, und die Businessleute rieben sich die Hände.

Wie haben die Drei diese Woge des Erfolgs, zusammengesetzt aus überraschenden Verkaufszahlen, schleimiger Lobhudelei und echter Anerkennung verdaut? "Wir waren sehr verwirrt damals", gibt Kurt Cobain unumwunden zu. "Unsere Haltung dem Erfolg gegenüber mag zu negativ gewesen sein. Das ist dann vielfach so interpretiert worden, als ob wir unsere Fans hassen würden. Davon kann jedoch gar keine Rede sein, das ist naiv und lächerlich, wir haben nie etwas derartiges gesagt. Wir wollen nur nicht diese merkwürdigen Mainstreamleute in unseren Konzerten, die Schlägereien anzetteln und Frauen respektlos behandeln."

Soeben erschien ihr neues Album IN UTERO. Neben einigen typischen Nirvana-Tracks enthält die Scheibe auch mehrere ziemlich schräge Nummern. Haben die Rockstars wider Willen diese Titel aufgenommen, um ihr Star-Image bewußt zu zerstören? "Wir könnten nie Musik zu einem bestimmten Zweck schreiben", entgegnet Kurt gelassen. "Zuallererst schreiben wir für uns selbst, doch wir würden nie ein anti-kommerzielles Album aufnehmen, das wäre nicht ehrlich."

Entrüstet wirft Novoselic ein: "Einige wollten das Märchen vom anti-kommerziellen Album so gerne glauben, daß sie aus einigen nichtigen Gerüchten riesige Schlagzeilen machten. Vielleicht mögen die Aufnahmen irgendjemandem bei unserer Plattenfirma nicht besonders gefallen haben, daraus fertigte dann das Nachrichtenmagazin NEWSWEEK eine ganze Seite mit dem Tenor: 'Nirvana verüben kommerziellen Selbstmord' ohne daß sie die Aufnahmen gehört hätten." Grohl bringt die Sache auf den Punkt: "Sicher werden wir keine noch kommerziellere Platte als NEVERMIND aufnehmen, aber wir machen auch nichts Selbstzerstörerisches!"

Dem Kommerz zu trotzen wie Nirvana es tun, das atmet förmlich den Geist des Punk. "Ich habe immer gesagt, daß ich Punk mag. Es sollte keine Halbgott-Verehrung der Musiker durch die Fans geben. Autogramme schreiben und ähnliches, das kommt für uns nicht in Frage; wir verachten dieses Rockstar-Verhalten. Jeder kann Gitarre spielen und auf die Bühne gehen, dazu braucht man keinen großen Mut."

Dennoch kommt auch das Trio aus Seattle nicht an der Tatsache vorbei, daß mit Musik Geld verdient wird. "Bei den großen Plattenfirmen werden viele alte Typen nur deshalb angestellt, weil sie gute Geschäftsleute sind. Bei unserer Firma (Geffen - Anm. d. Verf.) ist das anders. Unser A&R-Manager Ray Farrell zum Beispiel, weiß mehr über Musik als ich. Er kennt jede Band und hat sogar die Tracklist der einzelnen Alben im Kopf", berichtet Kurt voller Hochachtung. "Andererseits muß man das Geschäft bis zu einem bestimmten Grad schon verstehen. Bruce Pavitt und Jon Poneman von Subpop (dem alten Indie-Label von Nirvana - Anm. d. Verf.) waren anfangs nur Musikfans, die Freunden halfen, Platten herauszubringen. Plötzlich fanden sie sich in dem Dilemma wieder, nicht zu wissen, wie man Geschäfte macht. Deshalb wurden sie betrogen, und vieles lief schief, was sie wiederum das Vertrauen ihrer Freunde in den Bands kostete."

Zwei Jahre liegen zwischen den beiden Alben NEVERMIND und IN UTERO. Gab es eigentlich die Gelegenheit, auch mal Pause zu machen? Krist Novoselic: "Wir haben immer etwas gemacht. Wir gaben Konzerte in Argentinien und Brasilien, machten Videos oder nahmen an Benefizkonzerten teil. Ewig lange waren wir auf Tour durch die USA, Australien und Japan. Wir hätten sicher in großen Hallen spielen können, statt dessen fuhren wir mit einem Ford Transit herum und spielten in den gleichen kleinen Clubs wie immer." Nirvana sind ganz offensichtlich dabei, ihre Bedeutung herunterzuspielen, was mir persönlich allerdings eher wie Wunschdenken vorkommt - angesichts neun Millionen verkaufter Alben. "Wir sind längst nicht so groß und längst nicht so reich, wie alle denken. Mit unserer Popularität ist es während der letzten zwei Jahre rasant bergab gegangen", glaubt Kurt. "Wir hatten Angst, zu einer Art Guns N'Roses zu werden. Wenn wir den Mund gehalten und brav nochmals durch die USA getourt wären, zur Zeit als NEVERMIND richtig groß war und die Videos auf MTV liefen, dann hätte das durchaus passieren können. Ich wäre total zufrieden damit, eine Kultband zu werden -das fände ich großartig."

Die Popularität der größten 'Kultband' der Welt wußte Bassmann Novoselic zu einem guten Zweck zu nutzen. Der Sohn kroatischer Eltern engagierte sich, um Frauen im jugoslawischen Bürgerkrieg zu helfen, allen wohlgemerkt, ohne auf ihre Nationalität zu achten. "60.000 Dollar haben wir schon zusammen bekommen. Momentan kaufen wir mengenweise Schuhe. Ein paar Freunde von mir kamen letzte Woche aus dem Balkan zurück. Sie haben herausgefunden, daß die Frauen Schuhe brauchen, da sie häufig ihre Häuser nur mit den Kleidern am Leibe, ohne Schuhwerk, verlassen müssen."

Der Titel IN UTERO läßt nicht gerade darauf schließen, daß es die Band hinaus in die große weite Welt zieht. "Manchmal habe ich mich richtig schlecht gefühlt. Ich wäre lieber in einer Gebärmutter gewesen; das klingt nach einem warmen, bequemen Platz. Schließlich schreien Babies vor Ärger, wenn sie ihn verlassen und zur Welt kommen müssen", findet Kurt.

Die Produktion dieser Platte dagegen war eine leichte Geburt: Zwei Wochen haben das Aufnehmen und Mixen der Scheibe in Anspruch genommen. Die meisten Songs waren in den vergangenen anderthalb Jahren entstanden. Produziert hat Nirvanas Wunschkandidat Steve Albini (Pixies), mit dem sich Kurt auch im nachhinein hochzufrieden zeigt: "Er hat diesen Sound drauf, den wir immer schon haben wollten. Alles paßte perfekt zusammen. Wir hätten uns nur gewünscht, er hätte sich etwas mehr Zeit für den Mix gelassen. Er wollte einen Song pro Stunde mischen, nach dem Motto: Was aufs Band kommt, das ist es dann. Damit stimme ich nicht überein."

Also wurden zwei Songs noch einmal von Scott Litt abgemischt. Um den neuen Sound der Scheibe optimal rüberzubringen, plant das Trio, für einige Songs ihren Gitarren-Roadie 'Big' John Duncan auf die Bühne zu bringen, der früher bei der Punkband The Exploited in die Saiten griff. Er sei allerdings kein Mitglied der Gruppe, meint Grohl.

Ich habe mich oft gefragt, warum Kurt Cobain auf Fotos immer so griesgrämig dreinschaut. Jetzt endlich weiß ich warum. Die Grund liegt in der Zeit, in der Nirvana noch bettelarme Nobodies waren. Krists Freundin (und jetzige Frau) arbeitete damals bei Boeing in den Flugzeugwerken, sie schmierte Sandwiches in der Kantine. Dieses 'Essen' brachte sie mit nach Hause zur Fütterung der hungrigen Musikermäuler. "Von diesem Zeug habe ich drei Jahre gelebt", stöhnt Kurt. "Durch den Boeing-Fraß bekam ich schlimme Magenschmerzen." Dieses Bauchweh plagt ihn bis heute. Weiteres Bauchgrimmen wird der Nirvana-Frontmann durch all die Lügen und Gerüchte bekommen haben, die die Presse über ihn und seine Frau Courtney Love, Gitarristin der Mädelband Hole, in die Welt setzte. Höchste Zeit, sie zu korrigieren. Also Kurt, wie war das mit den Drogen? "Ich habe die längste Zeit meines Lebens Drogen genommen, obwohl ich immer versucht habe, das zu verneinen, um andere Leute nicht zu beeinflussen. Ich tat alles, um es zu dementieren, aber das funktionierte nicht. Jeder, der nur etwas Hirnschmalz in der Birne hat, weiß, daß Drogen zum Tode führen - ich wußte das immer."

Daß er zu harten Drogen griff, habe nichts mit dem unerwarteten Erfolg seiner Gruppe zutun gehabt: "Ich litt drei Jahre unter den erwähnten Magenschmerzen. Deshalb wurde ich zu einer extrem schlechtgelaunten Person, besonders auf langen Tourneen. Am Ende fühlte ich mich dann wie ein Junkie und entschied, ich kann ebenso gut Dope nehmen, um mir Erleichterung zu verschaffen. Von meinen Erfahrungen mit Marihuana wußte ich, daß es früher oder später langweilig werden wird und keinen Spaß mehr bringt. Ich war jahrelang süchtig nach Marihuana. Mir war klar, daß ich früher oder später von Heroin genauso krank wie von den Magenschmerzen werden würde. Ich fand keine Ärzte, die meinen Magen kurieren konnten. Ich wandte mich sogar an einen Psychiater, weil ich dachte, das hänge mit meiner negativen Lebenseinstellung zusammen. Am Ende habe ich hinzugelernt: Mittlerweile ziehe ich Magenschmerzen vor, anstatt noch einmal durch eine Entziehung zu gehen, das ist wesentlich schlimmer!"

Ein weiteres Gerücht besagt, deine Tochter Frances sei als Heroinabhängige geboren worden. "Absolut nicht! Hast du die Fotos von ihr gesehen? Leute, die so etwas denken wollen, sind sadistische Bastarde!" Hast du deine Frau mit dem Messer bedroht? "Das ist eine andere verrückte, frei erfundene Geschichte. Courtney und ich machten Musik zusammen, und die Nachbarn riefen die Polizei, weil wir derart in die Mikros brüllten, daß sie dachten, jemand sei in Gefahr. Es gibt dieses neue Gesetz in Seattle, daß die Ordnungshüter bei Ehestreitigkeiten einen der Ehepartner über Nacht ins Gefängnis stecken müssen. Wir beide stritten uns darüber, wer nun gehen solle, stießen uns umher und wurden richtig sauer aufeinander. Ich riß ihr den Hemdkragen ab. Im Polizeibericht hieß es dann später, ich hätte sie gewürgt. Meine Pistolen sind konfisziert worden. Das ließ manche glauben, daß ich Courtney mit einer Pistole bedroht hätte. Die Beamten fragten mich: 'Haben sie eine Pistole'? Ich sagte 'nein', und Courtney sagte 'ja'. Daraufhin nahmen sie meine Pistolen mit, die in einem Schrank im ersten Stock eingeschlossen waren".

Haßt Du Pearl Jam, die inzwischen mit TEN mehr Platten verkauft haben als ihr mit NEVERMIND? "Ich denke, Eddie Vedder ist ein richtig netter Typ", antwortet Cobain sibyllinisch, "doch ihre Musik klingt wie eine zweitklassige Bad Company-Kopie." Ein weiteres Gerücht besagt, du würdest in Geld schwimmen. Kurt: "Wir hatten ein Nummer-Eins-Album. Es geht uns gut. Wir haben genug Geld verdient, jeder von uns konnte sich ein schönes Haus kaufen, und wir hatten noch etwas übrig, um zu investieren, so daß wir für den Rest unseres Lebens nicht mehr arbeiten gehen müssen. Wir sind keine Millionäre, aber wir haben genug, um angenehm leben zu können, wenn wir nicht alles verpulvern."

Wie man weiß, hat alles seinen Preis - auch der Erfolg. Welches sind die guten und welches die schlechten Seiten eures Durchbruchs, will ich zum Schluß noch wissen. "Ich kann nicht mehr auf die Straße gehen", klagt Kurt, "ohne daß die Leute mich nerven. Sie sind zwar nett dabei, doch sie lassen mir keine Ruhe." Er findet jedoch auch gute Seiten am Erfolg: "Man bekommt Gelegenheit, Leute zu treffen, die wir respektieren. So habe ich mit dem Schriftsteller William Burroughs gearbeitet und bin ein paar mal mit Iggy Pop zusammengekommen. Positiv sind auch Erlebnisse wie dieses. Da kommt ein Typ auf mich zu und sagt: 'Okay, ich weiß zwar, daß ich nerve, aber ich muß dir was erzählen. Damals, als eure Platte herauskam, ging gerade die Beziehung mit meiner Freundin zuende. Ich spielte das Album jeden Tag. Es rettete mich. Es half mir, meine fünf Sinne beisammenzuhalten und diese Frau zu vergessen'. Das war eines der größten Komplimente, die man bekommen kann. Diese Geschichte hat mich wirklich bewegt."

© Henning Richter, 1993