LIVE NIRVANA INTERVIEW ARCHIVE December 6, 1991 - London, UK

Interviewer(s)
Matthias Penzel
Interviewee(s)
Krist Novoselic
Dave Grohl
Publisher Title Transcript
Fachblatt Wider Willen? Yes (Deutsch)

Laut Webster’s, dem amerikanischen Gegenstück zum Großen Brock­haus, bedeutet Nirvana Freiheit von Schmerzen, Leiden und der Umgebung. Seiner Definition von Punkrock, findet Kurt Co­bain, kommt das sehr nahe.

Kurt Cobain, Nirvanas Sänger und Gitarrist, ist derjenige, der auf zwei Fotos des aktuellen Albums Nevermind lächelnd zu sehen ist, auf einem dritten, unscharfen, seinen Mittelfinger leckend. Auf der Bühne umgibt ihn die Aura des Revoluzzers mit einer Schwä­che für Lyrik. Abgesehen von seinen Händen, ge­legentlich seinen Augenlidern, bewegt sich an ihm nicht viel. Er vermeidet, seine zwei Bandmitglieder anzuschauen, ebenso das Publikum. Bassist Chris Novoselic hoppelt derweil – zu­meist barfüßig – wie ein Leuchtturm, der sich bemüht, als Häs­chen gesehen zu werden, über die linke Bühnenseite. Beide ha­ben sie Kunst studiert, beide haben sie irgendwann aufgehört, Se­minare und Vorlesungen zu besuchen. Klassisch.

»Wir sind ganz bestimmt nicht gute Musiker«, stellen Drum­mer und Bassist – unisono – klar. »Ich meine«, fährt Chris fort, »so schlecht wie ich... Das sieht man besonders bei unseren Live-Shows: Meistens sind Kurt und ich völlig außer Stim­mung. Die Leute denken, das sei gezielt, ist es aber nicht. Der Grund ist einfach, dass wir das nicht kontrollieren können; und dass es uns nicht sonderlich wichtig ist.« David Grohl, der Drum­mer, ergänzt, dass Nirvana ihren Schwerpunkt auf Feeling setzen. »Das ist es, was man von uns bekommen kann: Be­stimmte Feelings, etwas echtes, statt diesem Yngwie-Malm­steen-Gedudel, das löst schließ­lich gar nichts bei einem aus – was mich betrifft, jedenfalls.«

Zum Zeitpunkt des Gesprächs ist Kurt Cobain nicht an­we­send, er liegt im Bett, aufgrund seines gelegentlichen Brüll-Stils muss er die Stimmbänder schonen, ein Arzt hat ihm ab­so­lu­te Ruhe ver­schrieben. Weiß der Henker, wer ihm Codein ver­schrieben hat. Er habe aber auch nicht widersprochen, sagt die PR-Dame der Plat­ten­firma. Auch sie hat davon gehört, dass der Co­deinkonsum einen Effekt hat, vergleichbar mit dem der be­täub­ten Hand im Feuer: Man spürt nicht, wie man vor die Hun­de geht.

»Als ich mit Gitarre anfing«, fährt Bassist Chris fort, »als Teenager, da wollte ich so werden wie Jimi Hendrix. Das ist ja der Grund, weshalb man übt: um gut zu werden. Aber dann ge­rät man an einen Punkt, wo man denkt, okay, jetzt ist gut. Das ist es ja auch, worum es bei Punk geht: Totales Feeling. Im Ge­gen­satz eben zu Emerson, Lake & Palmer, Yes, zu diesem gan­zen tech­no­lo­gischen, aufgeblasenen, progressiven Kram ist das, was wir ma­chen, eben einfach Drei-Akkorde-Rock.« Kei­ne neue Er­kenntnis. Das erste Konzert, das Novoselic besuchte, war zwar eins der Scorpions, aber die Sounds seiner Kindheit waren anderer Natur. »Neu­lich wurde ich in einem Radio-Interview gefragt, welche Top-Acts mir gefallen, worauf mir nix einfiel. Denn es sind Bands wie The Pixies, Dinosaur, Melvins, die mir gefallen. ’Madonna?’, fragte der, oder – was gibt’s da sonst noch? – ’Peter Gabriel?’ Nee: Wir haben andere Lehrjahre hinter uns, auch nicht dieser Guns N’Roses-Streifen: Wir kommen aus der Indie-Szene.«

Nichtsdestotrotz kniet die geschlossene Pro­mi­nenz der amerika­ni­schen Heavy-Kultur, die gestern noch Guns N’Roses und Me­tal­lica angebetet hat, vor Nirvana. Wa­rum? Was ist so außer­or­dent­lich an dem Sound des Trios aus dem Nord­­­westen der USA, dieser seit Hendrix eher ver­ges­senen und ab­gehakten Gegend? »Ich halte unseren Sound nicht für außer­ordentlich originell«, findet der Bas­sist. »Was wir machen, ist ein­fach... Hard Rock, sonst nichts. Es hat Me­lo­die. Es gab Bands, die das schon vor uns gemacht haben. Viel­­leicht liegt es auch daran, dass der Rock’n’Roll, den man zur­zeit hört, nicht sonderlich in­teres­sant ist – deshalb fahren die­se Musiker so sehr auf das ab, was wir machen. So viele Bands machen eben dasselbe Ding, dieses Ha­noi-Rocks-/Aero­smith-Ding. Sie haben ihre Harley Davidson, ihre Kopftücher, die selben Vorbilder... Ihre Videos entsprechen denselben Stan­dards.«

»Der Grund, weshalb die Leute uns für so andersartig hal­ten«, spe­kuliert David, »ist, weil wir uns nicht an ein ganz spe­zi­­fisches Publikum wenden. Es gibt nicht eine Sorte Typus, die wir konkret be­dienen, auf die wir abzielen. Wir machen ein­fach, was wir machen.«

Schon allein der Optik wegen würden sich mitteleuropäische A&R-Manager bei einem Nirvana-Gig noch vor dem ersten Re­frain wegdrehen: Links die Latte mit dem Bass überm Knie, in der Mitte ein Ludwig-Drumkit wie von Grand Funk Rail­roads Don Brewer, rechts der fast statische Gitarrero, der das Mikro nur ver­lässt, um sein Instrument gegen die Gitarrenbox zu brettern, in Feedback-Soli zu baden – das aber nur, wenn es über­haupt zu ei­nem Solo kommt. »Geffen Records hatten ur­sprünglich gerade 50.000 Exemplare der Platte pressen lassen, die waren im Hand­umdrehen ausverkauft. Auf so eine Re­ak­tion waren Geffen in kei­ner Weise vorbereitet, weshalb es eine Woche gedauert hat, bis sie mit den Bestellungen nachkommen konnten. Mann, ich hätte es als Erfolg bezeichnet, wenn wir ei­ni­ge Tausend verkauft hätten! Nach unserer ersten Tour für die Plat­te, als wir nach Seattle zurück­kamen, hieß es dann aber plötzlich, die Platte sei [für über 500.000 verkaufte Einheiten] vergoldet worden, inzwischen hat sie zwei­fach Platin erreicht! Unglaublich, wäre uns nie in den Kopf ge­gangen – Gold klang schon unglaublich. Eine Goldene? Wir haben uns dafür doch niemals die Beine ausgerissen, das Label kam nicht mit irgend­ei­ner ausgetüftelten Marketing-Kampagne, es gab nicht son­der­lich viele Anzeigen – die Platte ging ganz von alleine los, sehr organisch.«

Tja, wie sind die nun bei der Stange zu halten? Zwei Millionen Kids, die Nevermind und Nirvana lieben – wie geht eine Keller­band aus Seattle mit diesem Druck um? »Darum, was die Leute von uns nun erwarten«, sagt Chris Novoselic, »machen wir uns eigentlich keine Gedanken. Wir haben Geld für die verkauften Plat­ten bekommen, wir müssen uns also keine Sorgen machen, ob es den Leuten gefällt oder nicht.« Der Drummer lapidar: »Wir kön­nen uns jetzt warme Duschen leisten.« Dass sie nun vermehrt von genau den Kids verehrt werden, von Massen des Mainstream, gegen die sie mit ihrem Sound und Punk-Attitüde angetreten wa­ren, ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, und so fährt No­vo­selic dann doch in anderer Tonart fort. »Ich sehe das als eine po­si­tive Sache, eine gute Entwicklung. Wir verkauften all die Platten, ohne darauf abzuzielen. Unsere nächste Platte wird sehr... anders. Experimentell, wenn man will.« Keiner kann Dank MTV mehr als zwei Millionen Alben verkaufen und dann so tun, als sei alles wie vorher, nur die Duschen eben mit armem Wasser. Also meint Grohl: »Weiß nicht… Jetzt, wo die Dinge sich nun einmal so ent­wickelt haben, wie sie es haben, kann das einem einerseits mehr Frei­heit geben, aber es kann auch zu viel mehr Einengungen führen. Bestimmt Leute hegen Erwartungen... Ich fühle mich nicht wirklich verantwortlich dafür, den Erwartungen von irgendwem zu entsprechen, außer meinen eigenen; und denen der Band. Solange es uns Spaß macht, miteinander zu spielen, ist uns das genug. Ver­ant­wortungen, Interviews geben und so, so was kann einen schon ein­engen.« Erfolg kann dann zu einem Monster werden. Die Leute lieben einen – so wie bei jeder Liebe tun sie das, und manche ver­suchen dann, einen zu ändern... Die beiden sehen das, noch geben sie Interviews, machen Smalltalk mit der Frau von der Platenfirma, Smallertalk vermutlich mit deren Chefs – doch es ist bereits zu sehen, dass sie mit einem Erwartungsdruck konfrontiert werden, bei dem man umdenken muss; herausfinden, wie die Wucht und Energie eines Club-Auftritts auf Arenabühnen zu übertragen ist. »Wir achten darauf«, stochert Novoselic, »dass wir uns immer be­wusst sind, was wir machen.«

Zwischen dem Debüt Bleach und Nevermind sind ganze zwei Jahre vergangen. » Weil es so ablief, wie wenn man auf Job­suche ist«, bietet der Bassist an. »Du stehst auf, es ist schon halb drei, also bläst du alle für heute geplanten Aktionen ab, ver­schiebst alles auf morgen. Da kommt dann aber ein Kumpel vor­bei, bleibt den ganzen Tag, also übermorgen... dann ist schon wieder Samstag, also vergisst man es bis Montagfrüh – oder -nachmittag, oder wann immer du deinen Arsch aus den La­ken kriegst...« Dem Bassisten nimmt man das ohne weiteres ab. Mit müden Augen, immer bereit, über Ausgefallenes zu lachen, bei mancher Antwort lange überlegend, bevor er zum Sprechen ansetzt – Chris Novoselic ist exakt der Typ, der in neuer amerikanischer Literatur entworfen und beschrieben wird – als der nach abgebrochenem Studium jahrelang in der Uni-Men­sa Wandelnde und Wartende.

Ihre Präsentation eigenwillig, der Sound gar nicht so außer­ordentlich, Chris’ und Davids Statements weder eigenwillig noch außerordentlich – wie kommt es nun, dass sie aus einer klei­nen Garage im Bundesstaat Washington wie eine sorgfältig ent­worfene Rakete direkt an die Spitze der US-Charts schos­sen? Zufall? Beleg, dass die Marketing-Strategen der Plat­ten­firmen zumeist eben doch im Dunkeln tappen und tasten, tumb und taub wie sie sind? Die Antwort fällt leicht, steht und springt man bei Nirvana, kochender Konzertsaal hinter einem, durch die erste Reihe: Cobain, Novoselic und Grohl richten sich an Menschen, für die Rock’n’Roll nicht Synonym ist für Null­­nummer-Phrasen, denen harte Akkorde aber mehr be­deu­ten als das seichte Pseudogejazze eines Sting, das Jammern ir­gend­welcher Ex-Genesis-Musiker. Textlich – wie musikalisch – zünden Nirvana einen Stoff, präsentieren sie Themen, die man kennt, die man aber in dieser Kombination nicht alltäglich zu hören bekommt. Wenn Kurt Cobain über Vergewaltigung singt – wie in Polly –, befasst er sich damit nicht in der zu er­war­tenden Weise, Beschreibung der Situation des Opfers: er packt die Wurzel des Übels, den Mann. »Mit Sicherheit gibt es ei­ne Menge Leute, die qualifiziert genug sind, sich tief­ge­hen­der über bestimmte Themen auszulassen, als das bei drei Typen der Fall ist, die eben in einer Rockband spielen. Was wir also machen, ist im Grunde nur, Leute darauf hinweisen, dass sie auf­merksam sein sollen, dass man sich bewusst sein sollte, was so läuft. Es gibt so vieles, so viele Methoden, mit denen man sich eingehender informieren kann als auf einem Rockkonzert. Uns geht es nicht darum, anzuprangern, ‘Weg mit Bush’ oder so; obwohl unsere Musik beeinflusst ist von dem, was man po­li­tischen Punkrock nennt, sind wir nicht so eine Band.«

Nirvana, definitiver Aufsteiger 1991, selbst für ausgebuffte Mar­keting-Strategen ein Phänomen wie wenig andere; und doch: es klingt alles so simpel, warum also gibt es bisher nicht mehr Bands, bei denen jeder im Publikum spürt, wie einen die Mu­sik im Nacken packt? »In drei, vier Jahren wird das anders sein«, lächelt David Grohl dazu. »Die ganzen Warrants, Slaughters und Bon Jovis sind definitiv passé. Voll vorbei. Die werden dann hoffentlich von Bands ersetzt werden wie Captain America, Teenage Fanclub und Sonic Youth – von echten Menschen, die auf der Bühne sind, um aus dem einen und ein­zi­gen Grund, weil es ihnen Spaß macht, weil sie das Publikum da­mit anstecken wollen, statt lediglich ihre Gage ein­zu­kas­sie­ren, echte Musik spielen.« Klingt schick, idealistisch – glaubt je­­mand daran? Dieselbe Frage hätte auch in einer Rezension zu Nevermind fallen können.

© Matthias Penzel, 1992