LIVE NIRVANA INTERVIEW ARCHIVE November 11, 1991 - Hamburg, DE
Personnel
- Interviewer(s)
- Holger Stratmann
- Interviewee(s)
- Kurt Cobain
- Krist Novoselic
- Dave Grohl
Sources
Publisher | Title | Transcript |
---|---|---|
Rock Hard | Sorry, No Biker-Pop! | Yes (Deutsch) |
Transcript
Die hatte keiner auf der Rechnung. Ausgerechnet NIRVANA werden die erste Seattle-Band der neuen Generation sein, die in den USA Platin einstreicht. In Zahlen: 1.000.000 verkaufte Alben, Mitte November Platz 9 der Billboard-Charts. Ein Erfolg, der für das Superalbum "Nevermind" vollkommen in Ordnung geht. Dabei sind NIRVANA sicher die ungewöhnlichsten Hitparadenstürmer seit langem…
Wenn Guns N'Roses ins Flugzeug pissen, soll das angeblich Rebellion sein, in Wirklichkeit ist es verkaufsfördernd. Vielleicht, weil neun Millionen amerikanischer Teenager das auch mal gerne machen würden, aber nicht dürfen. Öder weil sie auf Jungs stehen, die mal richtig auf den Putz hauen und Mama und Papa noch ein bißchen abhärten - für die Flecken bei der nächsten Party beispielsweise. Kein Wunder, daß aalglatte Charter bei den meisten Jugendlichen im Party-kompatiblen Alter völlig abgesagt sind.
NIRVANA sind weder das eine noch das andere. Sollte Kurt Cobain jemals in ein Flugzeug pissen, dann ist das eher Zufall als Absicht. Denn NIRVANA provozieren keine Skandale, aber es kratzt sie auch nicht sonderlich, wenn etwas "passiert". Stories von halbabgebrannten Backstageräumen und weniger nett begrüßten Promoterinnen der eigenen Plattenfirma gibt es da. Aber das war's dann auch. Auf der anderen Seite bemüht sich die Band kaum in der üblichen Manier um Plattenverkäufe. Kein Posing, keine Anbiederung in Sachen Outfit oder Live-show. In punkto Musik sowieso nicht. NIRVANA sind wahrscheinlich die erste Band seit Jahren. die in abgetragenen, völlig geschmacklosen Siebziger-Jahre-Pullovern und mit unfrisierten Haaren in den USA Top 10 war. Und die beim Gig in der ausverkauften Hamburger Markthalle (ca. 300 Leute wurden noch nach Hause geschickt) nicht die geringsten Anstrengungen machte, das Publikum zu animieren, sondern recht reserviert den Set spielte. Man gewinnt den Eindruck, daß es sich bei dem Trio um absolute Eigenbrötler handelt, die die Meinung von Fans oder Medien einen Scheißdreck interessiert.
Nicht ganz. "Einige Leute fragten, warum wir nicht wieder mit Jack Endino auf 8-Spur produzieren", beschwert sich Drummer David Grohl, "aber wir wollten nicht immer das Gleiche machen. Unsere Musik hat sich kaum geändert. Sound und Studio sind besser. Die Plattenfirma hat sich nicht eingemischt", betont der Schlagwerker. Denn wie viele Seattle Noise-Punkrocker begannen auch NIRVANA ihre Karriere bei dem Kult-Indie Sub Pop. Nach "Bleach" und diversen Singleveröffentlichungen brachte nun Geffen Records die Band in die Charts. Die Faszination von "Nevermind" hat die USA nun gepackt. Hier paart sich fulminante Power mit eingängigen Melodien, ergänzen sich zärtliche Balladen wie "Polly" auf seltsame Art und Weise mit wilden Hardcore-Eruptionen wie "Territorial Pissings". Dazwischen befinden sich zahlreiche Hits. die was mit den ganz Großen wie Led Zeppelin, den Sex Pistols oder Beatles zu tun haben, nur härter und moderner sind. Das beste Beispiel ist die erste Singleauskoppelung "Smells Like Teen Spirit", so eine Art "Song des Jahres". Wenn so eine Nummer schon mehrmals am Abend in deutschen Rockdiscotheken läuft, fällt es nicht schwer, sich das exzessive Abnudeln bei MTV oder den amerikanischen College-Radios vorzustellen. "Wir waren acht Wochen Nummer eins im College Radio und sowohl dort als auch bei MTV in der "Heavy Rotation", das heißt, daß "Smells Like Teen Spirit" rund um die Uhr gespielt wird", bemerkt Bassist Chris Novoselic beinahe gleichgültig. Der Erfolg kommt also doch nicht ganz von selbst.
Als Novoselic in Tacoma (bei Seattle) noch Nudeln und Pizzas ausgefahren hat, war von dieser Euphorie noch nicht viel zu spüren. Über die alten Tage spricht man nicht so gerne. Immerhin gibt der baumlange Bassist zu, daß man nicht zu der Sorte "frustrierter Student" gehört, die den Großteil des musizierenden Seattle-Volks bilden. "Wir waren ganz normale Jugendliche, die gesoffen, geraucht und was-weiß-ich-was gemacht haben. Was man Artfang zwanzig eben so macht. Sogar Freundinnen haben wir gehabt.
Klingt tatsächlich irgendwie normal. "Trotzdem haben wir es weiter gebracht als die meisten Bands in eurem Heft hier, Metallica ausgenommen." Ein bißchen stolz scheint man also doch zu sein. Und eine gewisse Antipathie den Metal-Bands gegenüber ist zu spüren. "Die meisten klingen doch gleich, singen über Sex und Tod und sind nur an Geld und Groupies interessiert. Bei den Melvins. Pixies und Sonic Youth kommt die Musik vom Herzen. Das ist die Zukunft des harten Sounds", poltert Novoselic los, um später zuzugeben, daß das "nicht ganz fair war".
NIRVANA sind/waren Punks, die den Aufbruch der Seattle-Szene harnnah miterlebten, "Zwanzig, dreißig Leute haben sich zusammengerottet und in ihnen Kellern gegenseitig Konzerte gegeben. Auf die Art und Weise spielten die Bad Brains vor vierzig Leuten bei irgendeinem Typen im Keller. Die Melvins waren dann die ersten, die das Tempo drosselten und noisy Hardcore spielten. Wir selbst sind immer noch Punks. hören immer noch gerne das kalifornische Zeugs oder '70er-Jahre-Rock wie Aerosmith."
Daß NIRVANA ihre Roots nicht verleugnen, beweist ihre heutige Einstellung, sich selbst treu zu bleiben. "Punk sein heißt für uns, offen, rebellisch und politisch "korrekt" zu sein. Korruption zu verurteilen und der Norm zu trotzen. Ich meine nicht Poserpunx oder Hare Krishna-Typen. Man muß das Gefühl haben, unbesiegbar zu sein, darf keine Kompromisse eingehen. Wir machen, was wir wollen. Das wird sich auch nicht ändern, wenn uns Michael Jackson als Gäste auf seinem nächsten Studioalbum haben will oder Slash uns zum Saufen in L.A. einlädt. Wir stehen dem Rockbusiness seht kritisch gegenüber. Dieses Rockstargehabe kann ich nicht ausstehen. Die Leute verdienen es einfach, mal anderen Rock'n'Roll als Poison zu Gesieht zu bekommen."
Die Chancen dazu stehen nicht schlecht. Auch wenn manche Journalisten offensichtlich noch Schwieriekeiten haben, NIRVANA zu definieren. Chris Novoselic, Typ '69er Revolutions-Physiklehrer, lacht: "Jemand sagte gestern, unser Gitarrensound wurde ihn an den Klang eines Motorrads erinnern. Ob wir damit einverstanden waren, wenn er unsere Musik 'Biker-Pop' nennt…"
Der Pop-Faktor in der Musik sind neben dem oft benutzten Strophe-Chorus-Strophe-Chorus-Break-Strophe-Chorus-Aufbau die einprägsamen, aber unaufdringlichen Melodien von Hauptsongwriter Kurt Cobain, die einem den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf gehen. "Kurt hat ein gutes Gespür für Melodien. Die mittlere Periode der Beatles oder Led Zeppelin hat ans da sehr beeinflußt. Unsere Arrangements stehen in der alten Pop-Tradition. Das Ganze würzen wir mit der Energie des Punkrocks."
Die Teste will sich die Band hingegen nicht politisch auslegen lassen. "Wir stehen nicht auf einer Seifenkiste und predigen. Wir beobachten die Gesellschaft, und Kurt reflektiert gerne den typisch apathischen Durschnittsamerikaner. Das Cover ist ein ähnlicher Seitenhieb. obwohl wir es nicht interpretieren wollen. Ein Baby greift an Wasser nach einem Dollarschein, der an einem Angelhaken hängt, das sagt doch alles. Wir sind absolute Gegner des Materialismus."
Das sagt eine Band, die mithilfe eines Majorlabels auf Platz 9 der US-Charts steht. Sehr mutig.
© Holger Stratmann, 1991